Eine unglaubliche Reise in die Vergangenheit

Manche Geschichten sind so unfassbar, dass man sie gar nicht erfinden könnte. Die traumatischen Erlebnisse eines jungen Soldaten im zweiten Weltkrieg und die nachfolgende Zeit der Arbeitsdienste ließen den heute 90-jährigen Matthias Wraneschitz nie los. Seine Familie begab sich mit ihm von Ameis im Weinviertel auf die Reise zu den Schauplätzen von damals.

ERZÄHLT VON GABRIELE DIENSTL

 

Menschen als Spielbälle der Weltpolitik, Jugendliche ohne Jugend, tausend zerbrochene Träume. Und da ist jemand, der sich seiner schweren Zeit stellt und ihr ein Gesicht gibt: Matthias Wraneschitz in Ameis, geboren 1927 in Südmähren in einer kroatisch-österreichischen Familie.

Der Ort hieß Fröllersdorf, heute Jevišovka, und zu Hause wurde kroatisch und deutsch gesprochen, mit Freunden und in der Hauptschule deutsch und tschechisch. Und ab Oktober 1944 gehörte Fröllersdorf zum Deutschen Reich und das veränderte das Leben des jungen tschechischen Staatsbürgers dramatisch.

So dramatisch, dass die Erlebnisse sein ganzes späteres Leben lang in ihm brannten. Immer und immer wieder erzählte Matthias Wraneschitz seiner Familie von der Zeit als junger Soldat und den darauffolgenden Jahren der Arbeitsdienste. Er erinnerte sich dabei präzise an Jahreszahlen, Namen von Personen oder Orten und an viele Ereignisse ganz im Detail, sodass sich die Angehörigen recht genaue Bilder dieser unglücklichen Zeit ihres Opas machen konnten. Oft flossen bei diesen Schilderungen die Tränen, auch nach Jahrzehnten war der Leidensdruck dieser schrecklichen Erlebnisse viel zu groß für den mittlerweile verwitweten Wraneschitz.

Bis eines Tages sein Sohn Wolfgang und seine Schwiegertochter Ulrike im Herbst 2012 eine spontane Frage stellten: „Opa, willst du alle diese Orte noch einmal sehen?“ Die erste Reaktion des Familienseniors war ablehnend, jedoch bereits am nächsten Tag sei er in der Tür gestanden und habe gefragt: „Und wann fahren wir?“, erzählt Ulrike Wraneschitz.

 

„Wir besuchen alle Orte deiner Kriegsjahre!“

Was dann folgte, war eine intensive Aufarbeitung der bereits jahrelang von Schwiegertochter und Enkelin mitgeschriebenen Aufzeichnungen von Opas Berichten. Ortsnamen, Marschrouten, Weggefährten und Einwohner der verschiedenen Stationen des jungen Matthias Wraneschitz wurden genauestens recherchiert und in eine chronologische Reihenfolge gebracht. Daraus wurde dann die erste Reiseroute nach sieben Jahrzehnten in die Vergangenheit eines jungen Soldaten erstellt.

Als 16-Jähriger hatte Matthias Wraneschitz bereits zwei kurze militärische Ausbildungen in Payerbach an der Rax und in Pitten bei Wiener Neustadt absolvieren müssen. Ein weiterer Aufschub der Einberufung wegen Verpflichtungen in der elterlichen Landwirtschaft war nicht mehr genehmigt worden, und so musste der mittlerweile 17 Jahre alte Bursch in die 2. SS Panzerjäger Ersatzabteilung einrücken und wurde nach einer einwöchigen Ausbildung in Norddeutschland zu seinem Einsatzort verlegt.

„Das war irgendwo an der Grenze zwischen Holland und Deutschland“, erzählt Wraneschitz, „wir 90 jungen Burschen hatten den Auftrag, dort die englischen Panzer abzuwehren.“ Der wichtigste Lehrsatz in der Ausbildungswoche war: „Gebt den Schädel nicht aus dem Schützengraben raus, der Krieg ist ohnehin verloren.“ Anstatt der Panzer kamen jedoch Fliegerangriffe, und „wir sind gelaufen wie die Hasen, blindlings, Helm und Gasmaske hatte ich bereits verloren, irgendwohin wo jemand Rückzug schrie.“

Wie durch ein Wunder blieb Matthias Wraneschitz in den drei Monaten des Einsatzes unverletzt. Seine Einheit gelangte beim Rückzugsmarsch am 20. April 1945 durch den niedersächsischen Ort Papenburg. Dort sah er eines der kurz zuvor abgebrannten Konzentrationslager, das viele Todesopfer mit sich gebracht hatte.

In diesen Schreckensbildern tauchte ein älterer Herr mit Einkaufskorb auf, der den erschöpften Soldaten je ein Stück Brot brachte. Es war den jungen Soldaten bereits bewusst, dass nach der zu erwartenden offiziellen Kapitulation Deutschlands eine Gefangenschaft drohte, und viele versuchten dieser zu entkommen.

So auch Matthias Wraneschitz: „Diesen Mann mit den Broten habe ich gefragt, ob ich eine Zeitlang bei ihm bleiben und für ihn arbeiten kann.“ Er und seine Frau hatten selbst einen Sohn im Krieg und wohl aufgrund dessen nahmen sie Wraneschitz auf, gaben ihm sofort Zivilkleidung und er konnte an deren Hof bleiben, gemeinsam mit drei anderen Kindern der Familie.

Als es im Stadtwirtshaus von Papenburg mucksmäuschenstill wurde

Im Juni des Jahres 2013 fand nun die erste Reise von Matthias Wraneschitz im Alter von 86 Jahren an diesen Ort statt, wo er als junger Soldat das Kriegsende miterlebt hatte. Er fuhr in Begleitung seines Sohnes Wolfgang, seiner Schwiegertochter Ulrike und seiner Enkelin Anna nach Papenburg.

Am ersten Abend quartierte sich die Familie im Stadtwirtshaus ein und gab an der Rezeption den Grund ihres Aufenthalts bekannt. „Wir fahren mit unserem Opa an die Stätten seiner Zeit als Soldat, und wir beginnen hier in Papenburg.“ An der Rezeption machte man große Augen. Der Seniorchef des Wirtshauses sei sechs Jahre alt gewesen, als der Krieg zu Ende ging, und er hätte immer Interesse an der Bewahrung von Erinnerungen an diese Zeit gehabt, erfuhr die Familie.

Am gleichen Abend traf man sich in der Gaststube, und die inzwischen herbeigeschaffte Stadtchronik wurde bei dem Datum 20. April 1945 aufgeschlagen, dem Tag als Matthias Wraneschitz in die Stadt kam.
Schwiegertochter Ulrike las aus der Chronik, und Matthias kommentierte die Einträge aus seiner Sicht. Vom brennenden Konzentrationslager, den durchziehenden Soldaten und den Ereignissen in den Tagen danach war zu lesen, genau wie er es immer beschrieben hatte.

Nach und nach legten die anderen Gäste im Wirtshaus ihr Besteck zur Seite und man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so atemlos lauschten alle den Beschreibungen des Rückkehrers. Am Ende der Berichte gab es Tränen, Bewunderung und Sympathiekundgebungen. „Es war unglaublich berührend, unser Opa war der Mittelpunkt des Abends“, so die Familie.

Wieder zurück ins Jahr 1945. Rund zehn Wochen blieb Matthias Wraneschitz in Papenburg. Nach seiner Ergreifung durch die britische Militärpolizei wurde er einem Arbeitsdienst zugeteilt, und zwar in ein kleines Dörfchen namens Buchhorst in Schleswig-Holstein. Er half dem dortigen Bürgermeister Wilhelm Lohmeyer und seiner Familie bei vielen Tätigkeiten in der Landwirtschaft, oft gemeinsam mit dem Bruder Lohmeyers, der geistig zurückgeblieben war.

Wraneschitz verewigte ihre beiden Initialen im Stamm einer der großen Buchen, die am Ortsrand standen. Neun Monate lang, bis April 1946, verbrachte der junge Matthias Wraneschitz seinen Arbeitsdienst bei der Familie des Bürgermeisters und lernte in dieser Zeit auch die anderen Dorfbewohner kennen. In der kargen Freizeit trafen sich die jungen Burschen, häufig auch andere zugeteilte Kriegsgefangene, mit den Mädchen des Ortes und es gab sogar Musik und Tanz mit einfachsten Mitteln.

Bei der Reise in die Vergangenheit im Jahr 2013 wurde von der Familie Wraneschitz auch dieser Ort Buchhorst aufgesucht. Das Bürgermeisterhaus erkannte Matthias sofort, sprang aus dem Auto und läutete an. Der heutige Besitzer ist ein jüngerer Mann, der sehr an der Geschichte seines Hauses interessiert ist und der aufmerksam den Beschreibungen seines Überraschungsgastes lauschte. „Ich fand das Haus noch genau so wie es war als ich hier arbeitete, nur eine Zufahrt war geschlossen worden,“ berichtet Wraneschitz. Nach der gemeinsamen Besichtigung gab der Hausbesitzer weitere wertvolle Tipps für die Suche nach heute noch lebenden Menschen, die vor 70 Jahren im Ort gewohnt hatten.

Ein damals 14-jähriger Bursche namens Helmut Eisenreich hatte mit Matthias während seines Arbeitsdienstes regelmäßig Kontakt. Eisenreich lebt heute mit seiner Frau noch immer im Ort Buchhorst und wurde noch am gleichen Tag von der Familie Wraneschitz besucht. Die Wiedersehensfreude war groß, stundenlang erzählten die beiden Herren über ihre Erlebnisse von damals bis heute. Eisenreich wusste unter anderem, dass die Buchen am Ortsrand, in die sich auch der junge Wraneschitz verewigt hatte, noch immer bestehen. Ein Lokalaugenschein brachte schier Unglaubliches zu Tage: Gleich am ersten Blick erkannte Wraneschitz trotz seiner mittlerweile starken Sehbehinderung seine eigene Gravur in einem der Stämme, die rund 70 Jahre alt ist.

„Ich bin‘s, der Matthias“

Eines der jungen Mädchen des Ortes hieß Luise. Im Stadl, ihres großen elterlichen Bauernhofes, dort genannt Diele, fanden die Tanzabende statt. Luise war nach einem bewegten Leben als ältere Dame wieder in ihr Geburtshaus zurückgekehrt und wurde nun ebenfalls mit einem Besuch des ehemaligen jungen Kriegsgefangenen überrascht.

Wraneschitz läutete an ihrer Türe und Luise öffnete. „Griaß di Luise! Ich bin’s, der Matthias“, und die Antwort kam prompt: „Ja grüß dich, Matthias!“ Luise sieht zwar mittlerweile sehr schlecht, hat aber ihren Gast auch noch nach 70 Jahren sofort an der Stimme erkannt.

Auch eine Tochter des Bürgermeisters, bei dem Matthias Wraneschitz gearbeitet hatte, konnte noch angetroffen werden und sie erinnerte sich ebenfalls an den jungen Mann: „Er hat immer so schöne Gegenstände gemacht, zum Beispiel Zigarettenspitze aus Weichselholz.“

Langer Weg nach Ameis

Nach zwei weiteren Jahren in tschechischen Arbeitslagern gelang Matthias Wraneschitz die Flucht über die österreichische Grenze und er fand schließlich im Ziegelwerk von Ameis eine Arbeitsmöglichkeit. Dieser Ort ist seine neue Heimat geworden.

Zweimal hat Matthias Wraneschitz bereits seine Reise in die Vergangenheit mit der Familie angetreten. Sohn Wolfgang war selbst von den Begegnungen überrascht: „Wir hätten nicht geglaubt, dass wir überhaupt noch Spuren finden, aber es hat sich doch wenig geändert. Und dass es noch so viele Personen gibt, die sich an meinen Vater erinnern können, war wunderschön.“ Und was sagt der Opa selbst dazu? „Also wenn sie noch einmal fahren wollen, dann bin ich dabei. Es gibt da noch so einige Plätze, die wir nicht genau gesehen haben …“

Aus der Winterausgabe Wein4tlerin 2017
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